Luzerner Zeitung: Der Tatendurstige

In Luzern hat er bei der Festival Academy die neue Musik kennen gelernt. Heute erschliesst sich der 40-jährige Dirigent Pablo Heras-Casado immer neue Felder. Eine Begegnung.

Am Abend vor unserem Gespräch grase ich ein wenig das Internet ab auf der Suche nach Zusatzinformationen zu Pablo Heras-Casado. Und stosse auf «Das Verhör», eine lustige Sendereihe des Bayerischen Rundfunks. Zwei Journalisten halten darin einem Künstler all das vor, was über ihn gesagt wird. Zum Beispiel, dass dieser 40-jährige Spanier ein «Hansdampf in allen Gassen» sei. Sie fragen, ob es stimme, dass er mehr Dirigenten-Darsteller als Dirigent sei (weil er einmal Schauspielerei studiert hat). Sie sprechen ihn auf seine angebliche Nähe zur Mafia an. Beleg: Er kennt alle Teile des «Paten» und kann Filmzitate richtig zuordnen.

«Ich bin der Meistergärtner, der ständig weg ist»

Schliesslich erkundigen sie sich, auf welchem anderen Gebiet von ihm Grosses zu erwarten sei: «In der Gärtnerei», antwortet er amüsiert, und schafft es im Blindtest mühelos, Biorüebli und Biotomate vom Gemüse aus dem Supermarkt zu unterscheiden. Der Garten ist tatsächlich seine Leidenschaft, bestätigt Heras-Casado, als wir uns nach einer Probe mit dem Tonhalle-Orchester Zürich treffen. «Ich bin der Meistergärtner, der ständig weg ist», fügt er ironisch hinzu. «Gottseidank habe ich Helfer. Zum Beispiel den Freund, der meinen Garten in Granada angelegt hat.»

Von dort kommt er gerade, er schwärmt vom schönen Andalusien und vom Herbst, der so wunderbar sonnig sei. «Man sieht die Farben vibrieren.» Gerade hat er den zweiten Hochzeitstag gefeiert, der 18 Monate alte Sohn wächst und gedeiht. «Ich bin ein Familienmensch», sagt Pablo Heras-Casado, und meint damit auch die Eltern und die Schwester. Macht das Paar ein paar Tage Ferien auf den Kanarischen Inseln, dann ist das dem Gratisblatt «Diez Minutos» einen Bildbericht wert. Denn nicht nur Pablo Heras-Casado lenkt die Blicke auf sich, sondern auch seine Frau, die bildschöne Schauspielerin und Fernsehmoderatorin Anne Igartiburu.

Steht er allerdings vor einem Orchester, dann ist von dieser Glamour-Seite seines Lebens ebenso wenig zu spüren wie im Gespräch. Dann tritt die Musik ins Zentrum. Konzentriert dirigiert Heras-Casado an diesem Nachmittag bei der Probe die vierte Sinfonie von Johannes Brahms, und nimmt sich, nach einem ersten Durchlauf, den ersten Satz und das Finale vor. Kurz fallen seine Kommentare aus, es geht um Akzentsetzungen und den Rhythmus, knapp die Bewegungen von Armen und Händen.

Heras-Casado dirigiert ohne Stab. «Ich fühle mich wohler so», sagt er, «und die Orchester haben keine Mühe damit.» Sie sind ohnehin gut auf ihn eingespielt. Schon seit Jahren tritt er mit dem Freiburger Barockorchester auf. Ein zweites Standbein bildete in den vergangenen Jahren das New Yorker Orchestra of St. Lukes, mit dem er eine wunderbar filigrane, kammermusikalisch anmutende Einspielung von Tschaikowskys früher erster Sinfonie vorgelegt hat. Und ein drittes Standbein schliesslich ist das Teatro Real in Madrid.

Der Sohn eines Polizisten ist an der Spitze angekommen

«Heute kann ich es mir aussuchen, mit wem ich auftreten will», sagt Pablo Heras-Casado nicht ohne Stolz, aber auch mit einer Spur Verwunderung. Der Sohn eines Polizisten, in dessen Familie die Musik keine Rolle gespielt hat, ist an der Spitze angekommen und macht sich dort mit enormem, alle Epochen umfassendem und auch verborgene Ecken des Repertoires ausleuchtendem Tatendrang breit.

Mit neuer Musik ist er 2007 bei der Festival Academy des Lucerne Festival unter Pierre Boulez gestartet und seither dort immer wieder aufgetreten. Ebenso wichtig aber ist ihm die alte Musik, mit der er als Chordirigent angefangen hat. Gerade eben hat er mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Orchester Claudio Monteverdis «Selva morale e spirituale», eine Sammlung liturgischer Gesänge, auf CD eingespielt – und parallel dazu mit dem «Fliegenden Holländer» seine erste Wagner-Oper auf DVD vorgelegt. Mehr als dreihundert Jahre liegen dazwischen. Und doch, sagt Pablo Heras-Casado, «in meinem Leben entwickelt sich eins ganz natürlich aus dem andern». Jetzt, in der Mitte seiner Laufbahn, fühlt er sich bereit für Wagner, und kehrt zurück zu Monteverdi, dessen «Incoronazione di Poppea» er kommende Saison an der Staatsoper Berlin dirigieren wird.

Eine besondere Liebe verbindet ihn mit Felix Mendelssohn, dessen Sinfonien und Konzerte er eingespielt hat. «Er ist ein Romantiker. Aber ihm ist andererseits noch die Brillanz des 18. Jahrhunderts eigen. Und er ist moderner, als viele denken. Man kann viel Wagner in Mendelssohn hören. Und Mendelssohn in Wagner.»

«Eine Oper zu erarbeiten ist ein intensiver Prozess»

Wagner und Monteverdi: Sie dokumentieren auch die Bedeutung des Gesangs im Leben dieses Dirigenten. Mit acht Jahren hat er angefangen im Schulchor zu singen, mit Siebzehn gründet er ein eigenes Vokalensemble. Und heute ist er in der Oper ebenso zu Hause wie im Konzert. «Eine Oper zu erarbeiten, das ist ein besonderer, intensiver Prozess», sagt er. «Man muss das Teamwork mögen, die Sänger lieben, und auch Verständnis aufbringen für die Erfordernisse der Bühne – dann kann es gelingen.»

Luzerner Zeitung